Oktober 2020. Die Proteste in Nigeria gegen SARS (Special Anti-Robbery Squad) sorgen mit dem Hashtag #EndSARS international für Aufsehen. Man kann und will nicht länger dabei zusehen, wie die Zivilbevölkerung von dieser Einheit Polizeigewalt erlebt: Schikane, Schläge und im schlimmsten Fall der Tod. Dagegen geht auch Aktivist Matthew Blaise in Lagos mit der LGBTQ+ Community auf die Straße. Denn zusätzlich zu den gängigen Faktoren für’s Profiling, sind sie noch dazu Anti-Queerness ausgesetzt. Aus vollem Herzen schreien sie „Queer lives matter!“. Das Video geht viral mit über drei Millionen Klicks. Doch was heißt das jetzt für sie?
002: Was hättest Du gerne gewusst, bevor Du Aktivist wurdest?
Matthew: Die Kombination meiner Erfahrungen hat mich zum Aktivismus gebracht. Dass ich ständig kämpfen muss, weil ich Femme bin, bedeutete: Ok, wenn du schon für dich selbst kämpfst, dann kannst auch direkt für andere mitkämpfen. Es wird dir mehr geben, als hättest du dich nur für dich eingesetzt. Ich hatte keine Ikonen zu denen ich aufschauen konnte. Hätte ich welche gehabt, hätte ich gerne gewusst, wie Sexualität und Religion in Einklang gebracht werden können. Das ist einer der Gründe, weshalb es so lange gedauert hat, mich selbst zu akzeptieren. Es war für mich schwierig beides zu vereinen. Für queere Menschen in Afrika ist das ein großes Thema. Religion ist auf der einen Seite ein Lifestyle, eine Kultur für die meisten von uns. Du hast diese weiße Kultur, diese Religion; Und du hast etwas, das von Natur aus afrikanisch ist, aber jetzt nicht mehr als solches wahrgenommen wird. Beide Aspekte kommen zusammen. Sie bilden Deine Identitäten – und sie sind widersprüchlich. Das ist ein sehr großes Problem. Dass queere Menschen online posten, Gott habe sie von ihrer Queerness geheilt, liegt daran, dass sie immer noch verwirrt sind und nicht wissen, wie sie ihre Queerness und Religion in Einklang bringen können. Wenn ich ein Vorbild gehabt hätte, wäre es für mich einfacher gewesen, diese Dinge miteinander in Einklang zu bringen. Ich hätte deren Erfahrungen nutzen können, um einen eigenen Weg finden zu können.
Es gab eine Zeit, in der Du Religion und den Glauben ausgelebt hast. Gerade in diesen Räumen findet Anti-Queerness in Nigeria statt. Wie konntest du das mit dir vereinbaren?
Ich konnte einfach keine Lösung dafür finden, also hab ich’s gelassen. Ich war Katholik, ich war Christ, ich wollte irgendwann sogar Pastor werden. Das war für mich so schwierig zu vereinbaren. Ich musste es einfach droppen und mich lossagen. I am not ready for this mental gymnastics, I have a whole life to live. Aber es gibt andere Leute, die können das. Zu sagen, es sei unmöglich, würde heißen, Menschen, die diese Erfahrungen gemacht haben, ihre Realität abzusprechen.
Es wird eine Verbindung zwischen uns als Afrikaner*innen und der Erde geben. Wir werden lernen, dass unsere Existenz immer im Frieden verankert war.
Matthew Blaise
2013 hat der damalige Präsident Nigerias, Goodluck Jonathan, mit seiner Unterschrift der Erlassung eines Gesetztes zugestimmt, das Homosexualität und alles, was darauf hindeutet kriminalisiert: Same Sex Marriage Prohibition Act (SSMP). Was hat das in dir ausgelöst?
Als SSMP 2014 in Kraft trat, hatte ich noch mit verinnerlichter Homophobie zu kämpfen. Als es erlassen wurde, dachte sich ein Teil von mir: „Okay, was auch immer. Vielleicht werde ich geheilt, bevor ich verhaftet werde.“ Später sah ich dabei zu, wie es Beziehungen, Familien und Bildung beeinflusste… Wenn man das gleiche biologische Geschlechts hat, ist es verboten einander in der Öffentlichkeit Zuneigung zu zeigen. Wann immer du überglücklich mit bist, unterdrückst du diese Gefühle aus Angst verhaftet zu werden. Das Gesetz betrifft alle, nicht nur Homosexuelle. Es wirkt sich auf die Interessenvertretung aus. Das heißt, wenn Du für queere Personen kämpfst, machst Du dich zur Zielscheibe. Wir sehen trotzdem den Widerstand. Mit Gesetzen ist’s nämlich so: Sind sie ungerecht, merken das Menschen und werden sich auflehnen. Keine Gesetzeslage kann queere Menschen auslöschen. Wir haben homophobe Gesetze in verschiedenen afrikanischen Ländern, aber es gibt immer noch queere Menschen. Sie bilden trotz allem Koalitionen, kommen zusammen und teilen deren Erfahrungen. Wir wehren uns und existieren. Als ich die volle Wirkung dieses Gesetzes irgendwann verstand, brach ich zusammen. Meine Existenz wird kriminalisiert. Queer zu sein, wird kriminalisiert. Femme zu sein wird kriminalisiert.
In einem Interview sagst du, Nigeria hätte „die Sprache“ nicht. Welche Sprache fehlt und was muss für den Sprachunterricht getan werden?
Es ist notwendig, eine Verbindung zurück zu unseren Wurzeln herzustellen. Wörter wie „LGBTQ“, „schwul“ oder „homosexuell“ sind weiße Sprache. Solche Begriffe wurden von weißen Menschen erfunden, sie sind nicht „natürlich afrikanisch“. Ich bin sicher, dass es Worte gibt, die die Homosexualität in Afrika so beschreiben, dass sie bei uns auf Resonanz stößt. Sprache ist Tradition, sie ist Kultur, sie verbindet uns mit der Erde und den Wurzeln der Existenz unserer Person. Wenn Afrikaner*innen zum Beispiel wüssten „Oh, es gibt dieses Wort „schwul“, auf einer unserer eigenen Sprachen bedeutetes XYZ“, passiert Folgendes: Es wird eine Verbindung zwischen uns als Afrikaner*innen und der Erde geben. Wir werden lernen, dass unsere Existenz immer im Frieden verankert war. Leute denken, weil wir Worte aus dem Sprachgebrauch weißer Menschen annehmen, sei Homosexualität und Queerness nicht afrikanisch. In Ghana entsteht eine Initiative, um die Sprache für Queerness zu finden, die mit uns in Verbindung steht. Als Homosexueller, der in Nigeria aufgewachsen ist, hatte ich keinen Zugang zu Sprache. Worte wie LGBT oder Homosexuell waren beschämend. Hätte ich Wörter in einer Sprache meiner Kultur gehabt, hätte ich leichter damit relaten können.
Du hast vor einiger Zeit einen Beitrag gepostet, in dem du über die Diaspora rantest. Vor allem darüber, dass Africans in der Diaspora so über den Struggle im Motherland sprechen, als würden sie ihn täglich erleben.
Was diesen Beitrag getriggert hat, war, dass ich online einen Artikel über jemanden las, der zu den Medien kam und sagte, er führe eine Revolution in Nigeria – eine LGBTQ-Revolution. Das hat mich aufgewühlt, weil selbst nigerianische Aktivist*innen, die anderswo Asyl bekommen haben, nicht sagen können, dass sie eine Revolution führen. Ich bin Nigerianer, ich weiß, was hier passiert. Man kann nicht sagen, dass man eine Revolution anführt, wenn man Nigeria im zarten Alter verlassen hat oder in den USA die Bildung genossen hat und man immer privilegiert war. So lassen sie die Menschen in dem Glauben, dass eine Revolution in Afrika so einfach ist; dass eine Revolution von cis Menschen geführt wird. Dabei wissen wir, dass diese Revolution von Femme-, Trans- und gender nonconforming Personen im Land geführt wird. Es ist kein Problem, wenn die Diaspora hilft. Es gibt jedoch eine Art und Weise zu sprechen, ohne zu überschatten oder sich selbst in diesem Gespräch zu zentrieren. Die Diaspora sollte wissen, dass das, was sie tut, ein Beitrag ist. Sie sollte keine Anerkennung für das annehmen, was sie nicht tun. Die Hauptarbeit machen wir. Wir wissen, dass unser Leben durch diese Gespräche jeden Tag in Gefahr ist. Man kann sich keine Anerkennung holen, wenn man in Paris, den Niederlanden, Großbritannien lebt, wo man nicht getötet wird. Das ist lächerlich.
Fingers crossed, dass du ein Stipendium für die Staaten erhältst. Wer führt dann diese Diskussion im Land weiter, wenn auch du plötzlich zur Diaspora gehörst?
Das Stipendium ist für eine Konferenz. Würde ich ein Stipendium fürs Studieren bekommen, würde ich das annehmen, um meine Fähigkeiten zu verbessern, meinen Aktivismus zu verbessern und dann nach Nigeria zurückzukehren. Ehrlich gesagt, möchte ich nicht in den USA, UK oder wo auch immer bleiben. Ich möchte diese Länder nur besuchen und anschließend wiederkommen. Ich habe so einiges in Nigeria beigetragen und viele queere Personen auf diesen Weg gebracht. Ich kann sie nicht einfach verlassen und weggehen. Das einzige, was ich tun kann, ist mich bilden und zurückkommen, um meine Arbeit als Aktivist in Nigeria professionell fortzusetzen.
So kannst Du Matthew und deren Arbeit unterstützen:
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- The Oasis Project bietet Safe Spaces für die LGBTQ Community in Nigeria. Hier gibt’s Beratungsangebote für sexuelle und mentale Gesundheit, Panel Talks, Aufklärungsarbeit sowie Empowerment. Supporte deren Herzensprojekt mit einer Spende.
Titelbild: Matthew Blaise, Foto: Steven Tayo
